Schwitzen für die gute Sache!
Sie zog ihre Bahn vom äußeren Rand meines Sichtfeldes, das meine starr auf den Boden gerichteten Augen zuließen, in Richtung Zentrum. Irgendwann musste ich aufsehen und ihrem Blick begegnen. Es gab kein Entrinnen. Sie sprach mich an.
Es gibt soziale Verpflichtungen, denen nicht ausreichend gerecht zu werden verschafft mir ein ungutes Gefühl, ja geradezu ein schlechtes Gewissen. Es ist ganz so, als würde ich die scheelen Blicke von Freunden, Nachbarn und Bekannten auf mich ziehen. Und meine eigenen, die besonders schmerzen. Ich meine damit nicht eine dieser neuartigen Verpflichtungen zu kollektiver Hygiene, sondern einen alten Klassiker: Den Körperfettanteil. Steigt er sichtlich, treibt mich mein schlechtes Gewissen in „mein“ Fitness-Studio.
Auf dem Weg dorthin muss ich zwangsläufig einen der belebtesten Plätze der kleinen Großstadt überqueren, in der ich lebe, den Anger. Dieser Platz gilt aufgrund seiner Eigenschaft als Knotenpunkt des Öffentlichen Nahverkehrs, aber auch als Sammelplatz für die nicht verwendbaren Teile der urbanen Gesellschaft als besonders attraktiv für die Verbreitung von Botschaften aller Art. Verkaufstrupps, also Missionare von Konzernen und Parteien, sind hier fast täglich präsent um ihre Propaganda „face to face“ unter die Leute zubringen. Vermutlich ist die Chance einem gelangweilten Arbeitslosen oder einem rüstigen Rentner ein Fähnchen oder einen Kugelschreiber anzudrehen hier besonders hoch. Vielleicht glauben die Missionare auch, das Berufstätige beim Umstieg von einer Straßenbahn in die andere, bepackt mit Einkäufen und mit 2 Kindern im Schlepptau, die gerade aus Schule und Kindergarten abgeholt wurden, hier besonders aufnahmefähig für Botschaften aller Art sind. Und sei es nur wegen ihres Erschöpfungszustandes. Vielleicht gelten am „Point of Sale“ auch andere Kriterien für Erfolg. Zum Beispiel die schiere Anzahl von „Kontakten“ weniger das Ergebnis. Ich weiß es nicht.
Da ich inzwischen selber aussehe wie ein Rentner mit nichts als Zeit in seiner schweren Tasche, werde ich hier regelmäßig von Missionaren angesprochen. So auch heute. Die junge Frau war vielleicht um die 20 Jahre jung und entsprechend der Vorschriften ihrer gewählten „Peer Group“ gekleidet. Dazu gehörte auch eine Strickmütze auf dem Kopf, die mich an einen Zwerg erinnerte. Diese Strickmütze war es, die mich ein wenig voreingenommen machte, egal womit die nette Jugendliche, oder um der p.c. zu genügen, „Junge Erwachsene“, jetzt um die Ecke kommen würde. Die Mütze hatte etwas diktatorisches unter dem die junge Frau zu stehen schien, denn es handelte sich um den heißesten Tag des Jahres. Im heißesten Jahr der bisherigen Wetteraufzeichnungen. Ihr Bedürfnis, oder war es eine Art Zwang, in der prallen Mittagsglut im Juli 2022 eine Strickmütze zu tragen, hatte für mich etwas Verstörendes und Magisches zugleich. Sie schien die Mütze gleichzeitig zu erleiden und auch zu wollen. Da war schon klar, dass ich ihr nicht ausweichen würde.
Sie zog ihre Bahn vom äußeren Rand meines Sichtfeldes, das meine starr auf den Boden gerichteten Augen zuließen, in Richtung Zentrum. Irgendwann musste ich aufsehen und ihrem Blick begegnen. Es gab kein Entrinnen. Sie sprach mich an. Wie immer in diesen Situationen frage ich mich blitzartig, ob man mir ansieht, dass meine Sozialisierung es mir nicht erlauben würde, jemanden abzuweisen, wenn er lächelt. Die Antwort finde ich nie, denn in der nächsten Sekunde bin ich in ein Gespräch verwickelt und kann diesen Gedanken nie weiter verfolgen. So auch diesmal.
Entgegen der üblichen Verfahrensweise, die darauf hinausläuft, zu ermitteln, ob ich die betreffende Organisation schon kenne, oder ob ich aus Erfurt sei, wurde ich ohne langes Federlesen nach meinem Vornamen gefragt. Das überraschte mich. Und es war mir irgendwie zu intim. In dem Moment. Ich hatte von der ersten Sekunde an das Gefühl, sie nutzt die Bedürftigkeit aus, die gerade ältere Herren entwickeln, wenn sie nicht mehr ausreichend mit Jugend versorgt sind. Aber der Rebell in mir hatte beschlossen, sich nicht instrumentalisieren zu lassen, sondern in angemessenem Umfang dagegenzuhalten. Die Weigerung, meinen Vornamen zu nennen, verstörte die junge Frau nur kurz, denn wahrscheinlich gehört es zur woken Grundhaltung, niemanden zu seinem Glück zu zwingen und sie fing sich schnell wieder. Sie erklärte mir, das sie von der Organisation XY sei und es sich bei dieser um eine Hilfsorganisation für Flüchtlinge handelt. Diese sei weltweit tätig und hätte schon vielen Geflüchteten geholfen. Die Art der Hilfe für die Betroffenen blieb sie schuldig.
Sie fragte mich nicht, ob ich spenden wolle, sondern sie teilte mir mit, dass ich hier die Möglichkeit hätte das zu tun. Ganz so, als hätte sie mir ein entsprechendes Bedürfnis vom ersten Blickkontakt an angesehen und gäbe mir nun die Chance, mich augenblicklich zu erleichtern. Per Dauerauftrag am Besten. Wohin denn das Geld ginge wollte ich wissen. „Das kommt direkt den Betroffenen zu Gute“, kam prompt die Antwort. „Ok, aber ich meine, wer ist denn der Empfänger, welche Rechtsform hat denn Eure Organisation und wo ist ihr Sitz?“. „Wir sind eine Hilfsorganisation für Geflüchtete weltweit“ wiederholte sie und wirkte dabei nachsichtig. Offensichtlich erlebte sie es nicht zum ersten mal, dass sie die ganze Angelegenheit in ihrer Komplexität gerade Älteren zweimal erklären musste. Unfähig ihr Bemühen zu honorieren blieb ich hart, und wollte wiederholt wissen, wer der Zahlungsempfänger sei, für den sie mich gebeten hatte, einen Dauerauftrag einzurichten. „Ach weißt Du, solche speziellen Fragen… vielleicht kann Dir Manuel weiterhelfen…“. Manuel hatte mitbekommen, dass das Gespräch zwischen dem Zwerg und mir stockte und sprang bei. Sie blickte zu Manuel auf und ich verstand, das es außer dem Mitgefühl für Geflüchtete noch eine andere Motivation gab, mit Pudelmütze auf dem Kopf in der prallen Sonne zu stehen und cool und woke zu sein.
Nachdem ich meine Frage für Manuel wiederholt hatte klärte er mich auf: „Na wir sind eine Hilfsorganisation für Geflüchtete, die weltweit tätig ist.“ Ja, dass hätte ich inzwischen schon verstanden gab ich zurück, aber welche Rechtsform diese Organisation habe, beharrte ich, inzwischen etwas widerborstig. „Wir sind eine NGO, also eine Nicht-Regierungs-Organisation“ wurde ich belehrt. Dabei lag etwas in seinem Blick, das zwischen Mitleid und Hoffnung lag. „Ja das ist mir schon klar, aber handelt es sich um eine gemeinnützige GmbH, einen Verein, oder was bitte. Ich meine, Ihr wollt, das ich jeden Monat Geld schicke, ich möchte einfach nur wissen, wer das bekommt.“ „Ja, eine Art Verein“ kam die Antwort. Aber da hatte mich Manuel schon aufgegeben. So, wie bei dem Zwerg reichte der missionarische Eifer offensichtlich nur für leichte Fälle.
Trotz dieser Vermutung begann sofort das schlechte Gewissen in mir zu nagen. Schlagartig taten mir Manuel und sein Duz-Zwerg mit Pudelmütze in praller Mittagssonne ein wenig leid. Konnte ich diesen jungen, engagierten und aufgeweckten Menschen nicht einfach die Selbstwirksamkeitserfahrung gönnen, nach der sie offensichtlich suchten? Vielleicht kann ich als alternder Vorruheständler gar nicht mehr richtig einschätzen, was hier abgeht? Ich meine, der Zwerg schwitzte immerhin für eine gute Sache.