Menschheit 2.0
Was zu einem guten Leben gehört, ist ein weites Feld. Das haben viele kluge Köpfe beackert. Trotzdem fällt mir spontan nichts ein, was als Quintessenz jedem Otto-Normalbürger dazu an die Hand gegeben wurde. Meine Eltern, meine Lehrer, meine Kindergärtnerin, was haben die nochmal dazu gesagt? Es fühlt sich an, als hätten alle, die ansonsten beflissentlich auf meine Erziehung gewirkt haben ausgerechnet diesen Punkt schlicht vergessen. Oder waren sie selber ratlos? Was steht denn drin, im Protokoll?
Der Vorwurf unsolidarisch zu sein, ist ein harter Brocken. Den verdaut man nicht so leicht. Schließlich ist es auch nicht so, das ich mir den letzten Kloss einfach auf den Teller packe, während alle anderen in die Röhre gucken. In dieser Situation führt mein unsolidarisches Verhalten für den Tischnachbarn nicht zu Futterneid, sondern angeblich zu einer schweren Krankheit. Das ist eine ganz andere Hausnummer, wenn man daran schuld sein soll. Mit meiner Verweigerung eines körperlichen Eingriffes gefährde ich anderer Menschen Gesundheit, wird behauptet. Ich töte damit Menschen, so die öffentliche Meinung. Das lässt man sich nicht gerne sagen. Gibt es Schlimmeres über einen Mitmenschen zu sagen? Und ich frage mich immer öfter, wie ich das werde denen vergessen und vergeben können, die mir das vorhalten, wenn alles vorbei ist. Und das wird es. Entweder weil es vorbei ist, oder weil es vorbei ist.
Mit solchen Vorwürfen haben sogar robustere Gemüter als ich ein Problem. Nur die wenigsten können das Problem einfach dadurch lösen, das Sie den Wahrheitsgehalt der Annahme bezweifeln, die der Situation zugrunde liegt, also die Notlage nationaler Tragweite einfach hinwegschwurbeln. Ich kann das nicht. Bin aber trotzdem mißtrauisch gegenüber der offiziellen Geschichte.
Wie kann ich es schaffen, mich mit meiner Entscheidung wohl zu fühlen, mir kein schlechtes Gewissen einreden zu lassen?
Mir scheint, der Dreh- und Angelpunkt ist die Frage nach dem Risiko, das mit einer bestimmten Handlung oder ihrer Unterlassung verbunden ist. Auch wenn das sehr individuell ist, ist es doch für alle ein Risiko. Es muss richtig eingeschätzt werden. Und aus dieser Einschätzung muss eine individuelle Erkenntnis erwachsen, die zu einer Entscheidung führt. Selbstverständlich kann ich diese Entscheidung delegieren: Ich lasse die Medien-Berichterstattung auf mich wirken und entscheide dann intuitiv aus dem Bauch heraus. Auch dabei kann man subjektiv das Gefühl haben, es sei die eigene Entscheidung, aber ich habe da meine Zweifel. Der andere Weg ist bei weitem anstrengender: Ich quäle mich mit recherchieren, bewerten, revidieren, nivellieren, streiten und treffe am Ende eine selbstbestimmte Entscheidung. Eine vorläufige Entscheidung. Die ich auch wieder neu überprüfen kann. Das scheinen auch einige helle Köpfe von der Universität Oxford so zu sehen. Sie haben zahlreiche Befunde aus dem Corona-Geschehen in eine Datenbank eingespeist, Alter, Vorerkrankungen, sozialen Hintergrund, Lebensweise und andere Faktoren durch einen Algorithmus gewichtet und ermöglichen es mir, meine ganz persönliche - wenn auch rein rechnerische - Risiko-Prognose zu ermitteln. Das hilft, jedem, dem die wirren der letzten 2 Jahre doch ein wenig ermüdet und irritiert haben.
Wenn ich mich morgens in ein Auto setze, um zur Arbeit zu kommen, gefährde ich andere Menschen. An dieser Aussage könnten nur prinzipielle Zweifel bestehen, wenn es unklar wäre, ob bei morgendlichen Fahrten zur Arbeit Verkehrsunfälle passieren oder nicht. Nehmen wir an, das kommt gelegentlich vor, dann ist die Aussage richtig, dass von uns, den Autofahrern, eine gewisse Gefahr ausgeht. Warum steigen dann trotzdem so viele Menschen jeden Tag in Autos? Sie müssen doch wissen, das das andere Menschen gefährdet und auch tötet. Sie tun es trotzdem, weil zwischen uns Menschen, die wir davon betroffen sind, eine Art Vertrag, eine Übereinkunft besteht. Diese Übereinkunft besagt, dass das Risiko beim Autofahren ein Maß hat, das im gesellschaftlichen Durchschnitt als akzeptabel gilt. Jedenfalls unter der Voraussetzung das mein Verhalten als Kraftfahrer bestimmten Vorschriften entspricht und mein Auto ebenfalls bestimmte technische Eigenschaften, also einen TÜV hat. Wenn alle diese Eigenschaften, Maßnahmen oder Verhaltensregeln bestehen bzw. befolgt werden, wird dadurch die Zahl der Unfälle in einem Maße reduziert, bei dem man für das Restrisiko sagen kann: Das nehmen wir in Kauf. Diesen Vertrag verletze ich, wenn ich mich an eine der Vorschriften nicht halte oder mein Fahrzeug nicht in den Zustand versetze, der vorgeschrieben ist.
Ich verletze den Vertrag aber auch, wenn mein Körper bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt. Wenn zum Beispiel meine Sehkraft ein bestimmtes Maß unterschreitet, muss ich meiner mangelhaften Körperlichkeit mit technischen Hilfsmitteln, zum Beispiel einer Brille, auf die Sprünge helfen. Ich muss mich ein wenig tunen. Weigere ich mich, oder versäume es aus anderen Gründen meiner mangelhaften Körperlichkeit abzuhelfen, bin ich unsozial und gefährde andere und mich selbst. Kurz, ich gehöre aus dem Verkehr gezogen. Man empfiehlt mir den ÖPNV.
Wir haben also schon lange in vermutlich sehr vielen Bereichen des sozialen Zusammenlebens Übereinkünfte, die nicht nur mein Verhalten regeln, sondern auch bestimmte körperliche Merkmale als Zugangsvoraussetzung definieren. Ich habe damit kein Problem. Wenn ich etwas nicht kann, warum auch immer, dann lasse ich es. Das hilft mir und anderen dabei schadlos durch den Tag zu kommen.
Die Tatsache, dass ich mit der Impfung solche Probleme habe ist also nicht darauf zurückzuführen, dass ich prinzipiell ein Tuning meines Körpers ablehne, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Ganz egal ob für mich persönlich oder im Sinne dessen was die Gemeinschaft als notwendig ansagt.
Hier steckt etwas anderes dahinter. Aber was?
Eine Autofahrt kann eine schwierige Sache sein. Gute Sicht ist dringend geboten. Eine kleine Seehilfe zwischen meinem Sinnesorgan und der Außenwelt kann helfen. Die Brille sitzt dabei auf meiner Nase und wenn ich sie nicht brauche, oder sie mir zeitweise lästig wird, kann ich sie jederzeit abnehmen. Etwas anderes ist es, bei einer Augenoperation, dem Lasern. Dabei wird Gewebe abgetragen, wodurch zum Beispiel eine Hornhautverkrümmung dauerhaft korrigiert werden kann. Die Sehschwäche wird durch einen körperlichen Eingriff behoben. Mein Sehvermögen entspricht wieder der Norm und meiner Teilnahme am Straßenverkehr steht nichts im Wege.
Es ist gängige Praxis und wahrscheinlich auch rechtlich abgesichert, dass ich hier eine Wahl habe. Zum einen kann ich ohne extreme Einschränkungen meines sozialen Lebens wahlweise vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, zum anderen habe ich die Wahl zwischen einer meinen Körper in keiner Weise verändernden Sehhilfe und einer, die gleich das Sehproblem mit Stumpf und Stiel ausrottet, also meinen Körper innerlich verändert. Ob ich mich für die eine oder andere Abhilfe entscheide bleibt allein mir überlassen. Es gibt keinerlei gesellschaftlichen Druck, geschweige denn gesetzliche Regelungen, die mich in die eine oder andere Maßnahme drängen. Hinzu kommt, dass ich es auch ganz sein lassen kann, wenn ich mein Leben auch ohne fahrbaren Untersatz regeln kann oder auf das Lesen von Blog-Beiträgen verzichten will. Beides sehr gute Entscheidungen!
Die gegenwärtige Impfdebatte ist ganz anders gelagert.
Unter Pandemie-Bedingungen besteht mein körperlicher Makel im wesentlichen unter der Abwesenheit von Immunität gegen einen bestimmten Virus. Nebenbei fällt auf, das sich der Makel nur auf einen bestimmten Virus bezieht, zunächst nicht auf eine universelle Immunität. Ich kann also gegen andere Viren ebenso anfällig sein wie für Corona, das stellt in der gesamtgesellschaftlichen Debatte kein Problem dar. Es geht einzig und allein um einen bestimmten Virus bzw. die nicht vorhandene Immunität gegen einen ganz bestimmten Virus. Dieser Fokus ist durchaus nachvollziehbar, weil die von dem speziellen Virus ausgehende Gefahr deutlich höher wahrgenommen wird als bei anderen Viren. Uns unbekannte Erreger oder zukünftige mit eingeschlossen. Ob uns unsere Wahrnehmung trügt, in den letzten Monaten getrogen hat, ob zum Beispiel alles nur halb so schlimm ist, oder ob alles tatsächlich noch schlimmer ist, das werden wir sicher in der nächsten Zeit wissen können, wenn wir das wollen. Aber eben nur dann.
Aber zurück zur Sache. Wir stellen also einen körperlichen Makel fest, der darin besteht, gegen ein bestimmtes Virus nicht immun zu sein, das bei uns selbst oder bei Mitmenschen ab einer bestimmten Altersklasse eine wahrnehmbare und nachweisbare Gefährlichkeit bis hin zum Tod hat.
Ganz im Gegensatz zu unserem Beispiel von der Sehhilfe beim Autofahren können wir im Falle einer potentiellen Viruserkrankung nicht durch Anwendung äußerer Mittel, also zum Beispiel durch Atemschutz-Masken oder Abstand halten, den körperlichen Makel an sich abstellen, wie das durch eine Sehhilfe möglich ist. Wenn ich die Brille trage, sehe ich auch tatsächlich besser. Wenn ich eine Mund-Nasen-Bedeckung trage, werde ich nicht immun.
Wir kommen also hier in ein Dilemma: Das eigentlich angestrebte Ziel, eine körperliche Fehlerkorrektur, kann bei Viren nicht durch ein äußerlich anzuwendendes Mittel erreicht werden, das ich jederzeit beiseite legen kann. Es muss gelasert, pardon, geimpft werden. Manche sagen auch Gentherapie dazu. Aber das ist wieder eine andere Frage. Entscheidend ist, dass es sich um einen Eingriff in meine Körperzellen handelt, der nicht rückgängig zu machen ist.
Ist das eigentlich zum ersten Mal in der Geschichte so? Ich meine, dass die Mehrheit einer ganzen Gesellschaft darauf besteht, einen innerlichen, als „Fehler“ wahrgenommenen Zustand, durch welche Methode auch immer, bei denjenigen auszumerzen die diesen Makel haben, also bei ALLEN?
Ist das der Anfang vom Ende unseres Selbstverständnisses als Menschen?
Beginnt jetzt die Menschheit 2.0 von Ray Kurzweil?
Ist das überhaupt noch Medizin oder schon kollektive Eugenik, Transhumanismus?
Oder doch nur Doping?